Wushu EM 2006 in Lignano, Italien

Viel Lehrgeld für die Schweizer Nationalmannschaft - Urs Krebs neu im Executive Committee des europäischen Verbandes!
 
Die Schweizer Wushu-Nationalmannschaft, d.h. das Taolu (Formen-) wie auch das Sanda-Team mussten an der diesjährigen Europameisterschaft teures Lehrgeld bezahlen. Wenn auch das Team sehr jung und es für die meisten AthletInnen der erste grosse Anlass war, blieben diese insgesamt doch hinter ihren Möglichkeiten zurück. Als Spezialist für Taolu werde ich mich allerdings hüten, das Sanda detailliert zu analysieren. Immerhin gelang dort Oliver Hasler, dem erfahrensten Kämpfer, auch das wertvollste Resultat für das Schweizer Team: Nach seinem ersten gewonnenen Kampf gegen einen tschechischen Gegner, verlor er seinen Halbfinal gegen einen starken russischen Kämpfer. Dadurch gewann er die Bronzemedaille in dieser Gewichtskategorie.

Um dem Taolu-Team gerecht zu werden, möchte ich dessen Situation etwas detaillierter erläutern. Nur so kann jemand, der noch nie an einem solchen Grossanlass dabei war, nachvollziehen, was die AthletInnen alles verdauen mussten, bevor sie überhaupt an den Wettkampf denken konnten. Michael Totzke, der Chef Leistungssport Taolu im Schweizerischen Wushu Verband und Trainer an unserer Schule sowie meine Wenigkeit kamen erst am Dienstagabend, dem 1. Wettkampftag also, in Lignano an. Die offizielle Schweizer Delegation hingegen war seit Sonntag in Italien und unterrichtete uns laufend. Was wir hörten, erfreute uns keineswegs.

Noch am Sonntag wurde von jedem Taolu-Mitglied jeder Nation verlangt, seine Form(en) auf einem Formular nieder zu schreiben und insbesondere alle Schwierigkeitsgrade zu notieren. Dieses Blatt wurde bislang, obwohl es so im neuen Taolu-Reglement steht, nicht einverlangt. Hätte man das Reglement in letzter Konsequenz angewendet, so wäre der Europäische Wushu-Verband verpflichtet gewesen, dieses Formular mit der Ausschreibung jedem Landesverband zuzustellen und es bis spätestens 30 Tage vor dem Wettkampf zurückzuverlangen. Da man diese Vorschrift ausser Acht liess, mussten die Athletinnen fast aller Nationen z.T. bis weit nach Mitternacht (unsere bis ca. 1.30 Uhr!) an diesem Formular arbeiten. Warum dauerte dies so lange?

Seit Einführung freier Formen anstelle der früheren Pflichtformen ab ca. 2004 (fliessend) wurde auch ein neues Wertungssystem eingeführt. Die Note besteht neu aus einer technischen A-Note (max. 5 Punkte), einer B-Note für die Gesamtleistung (max. 3 Punkte) und einer C-Note für die gezeigten Schwierigkeitsgrade (max. 2 Punkte). Diese letzte Note entscheidet heute in der Regel über Sieg oder Niederlage. Die Schwierigkeitsgrade je Form sind gegeben. Es handelt sich dabei um eine Gruppe von festgelegten Bewegungen, welche je nach Fähigkeiten des jeweiligen Athleten gewählt werden können. Die C-Note setzt sich aus zwei Untergruppen von 1.4 und 0.6 Punkten zusammen. An internationalen Wettkämpfen (inklusive der letzten WM in Hanoi) war es offenbar bislang Praxis, dass man auch Schwierigkeitsgrade zeigen durfte, die in der Summe mehr als 2 Punkte ergaben. Gezählt wurden dann aber nur max. 2 Punkte. Der russische Chef der technischen Kommission des Europäischen Wushu-Verbandes interpretierte diese Regeln nun erstmals und ohne Vorwarnung streng nach Reglement: Die angemeldeten Teile durften in der Summe 1.4 und 0.6 Punkte nicht übersteigen. Wer diese Grenzen übertraf (Unterschreitungen spielen keine Rolle), erhielt sein Anmeldeblatt am Sonntagabend so lange zurück, bis das Total max. 2 Punkte ergab. Dazu kam, dass im Reglement in einem Anhang die Basisbewegungen von Nanquan und Changquan aufgeführt sind. All diese Basisbewegungen wurden in Uminterpretation der Regeln zum Mindestinhalt der Form erhoben, obwohl es AthletInnen gab, die nicht die ganze Sammlung an Basisbewegungen in ihrer Form hatten (was auch noch nie irgendwo an einem Wettkampf verlangt worden war). Auch diese Bewegungen mussten im Formenablauf eingezeichnet werden. Wer noch nicht alle drin hatte, wurde gezwungen, fehlende Teile nachzumelden.

Die Konsequenzen für die teilnehmenden Nationen waren z.T. enorm. Ganze Formen mussten nur 36 Stunden vor Wettkampfbeginn umgeschrieben werden. Neue, vorher kaum trainierte Teile wurden eingesetzt und nicht passende, aber stets trainierte Bewegungen wurden entfernt. Zum Teil mussten dadurch z.T. auch erhebliche Änderungen am Formenablauf vorgenommen werden. Das ist so, als wenn man Stéphane Lambiel zwei Tage vor der Olympiakür gesagt hätte, er müsse in seiner Kür noch drei Teile weglassen, diese vier Sprünge hinzufügen und den Ablauf an drei Orten umstellen. Die Teamleader beschwerten sich reihenweise über diese vollkommen überraschend eingeführten Regelinterpretationen. Niemand konnte jedoch mehr etwas ausrichten. Das Schweizer Team versuchte am Montag, dem einzigen verbliebenen Vorbereitungstag, das Beste aus der Situation zu machen, aber der Absturz für die 1. Kategorie vom Dienstag, dem Changquan Männer, mit insgesamt drei Schweizer Teilnehmern war quasi vorprogrammiert. Und leider traf er dann auch ein.

Urs Frick, Jehmsei Keo und Kay Gürber blieben dabei alle weit unter ihren Möglichkeiten (Urs als erfahrenster Athlet meisterte die Situation noch am Besten). Kay z.B. vergass infolge der Umstellungen tatsächlich ein Stück seiner abgeänderten Form und beendete diese damit viel zu früh. Er erhielt allein für dieses zwischenzeitliche Vergessen und die dadurch zeitlich viel zu kurze Form einen Abzug von 0.8 Punkten (entsprechend 10 Rängen!). Die drei Wettkämpfer konnten einem alle leid tun.

Yoel Berger mit Speer war zu diesem Zeitpunkt bereits das Opfer seiner am Sonntag abgeänderten Form geworden. Das neu zwangsweise eingefügte Teil, welches ihm nicht besonders liegt (zuopan), führte bei der Vorbereitung am Montag denn auch zu einer Knieverletzung, welche ihn im Wettkampf vom Donnerstag derart behinderte, dass auch er weit hinter seinen Möglichkeiten zurückblieb.

Am Mittwoch zeigte sich das Team vom Anfangsschock "Changquan" zunächst gut erholt. Sami Ben Mahmoud von Chin Woo Zürich holte mit seinem 9. Platz im Nanquan das bis dahin wertvollste Resultat für die Schweiz. Man darf gar nicht daran denken, was passiert wäre, hätte Sami mit seinen Schwierigkeitsgraden die volle Punktzahl (2.0) erreicht (was durchaus möglich gewesen wäre): Er hätte die Bronzemedaille gewonnen!

Der nächste Tiefschlag folgte jedoch nur kurz darauf: Rebecca Beuggert, die einzige Frau im Schweizer Taolu-Team, welche am Donnerstag in den Kategorien Changquan und Säbel hätte antreten müssen, verletzte sich am Mittwoch am Innenband des rechten Knies derart, dass an einen Start nicht zu denken war. Unsere Enttäuschung war umso grösser, als sie im Training jeweils einen sehr guten Eindruck hinterlassen hatte. Die Säbelform vom Nachmittag von Jehmsei Keo war dann immerhin ein kleiner Lichtblick, auch wenn er sein Rendement weiterhin nicht ganz ausschöpfen konnte.

Am Donnerstag zeigte Philippe Binder vom China Wushu Institut St. Gallen seine Schwertform. Als Spätfolge der Schreibübung vom Sonntag geriet leider auch er mitten in der Form aus dem Konzept. Immerhin resultierte mit 8.09 doch noch eine Note über 8. Am Freitag standen Kay Gürber und Urs Frick, letzterer von der Chin Woo-Schule Affoltern, im Stock der Männer im Einsatz. Während Kay mit einer Note von 8.32 seine Möglichkeiten immerhin andeutete, musste Urs Frick leider schon sehr früh beim Xuanzi-Zhuanti-Diecha (Butterfly-Schraube-Spagat-Kombination) mit dem Stock am Boden abstützen und kam danach nie mehr ganz an seine Möglichkeiten heran.

Trotz all den Tiefschlägen war das Team grundsätzlich immer guter Laune und hat sich gegenseitig gestützt. Es wurde in dieser Zeit von Zhu Shaofan, einem der Taolu-Nationaltrainer der Schweiz, ausgezeichnet betreut, wofür wir uns bedanken möchten. Auch Urs Nussbaum sei für die Teamführung gedankt (Sanda-Nationaltrainer). Michi und ich versuchten der Gruppe am Dienstag insofern einen Lichtblick zu verschaffen, indem wir Essen und Getränke aus der Schweiz mitbrachten. Insbesondere das Frühstück in Italien war für Hochleistungssportler einfach unannehmbar. Michi ging deswegen noch vor der Abreise für CHF 250.- einkaufen (vielen Dank!) und ich räumte unseren Vorratsschrank. Ein weiterer Dank geht an den Vizepräsidenten des Schweizerischen Wushu Verbandes, Zenno Streich, der die Delegationsführung innehatte.

Eine gute Nachricht zum Schluss: Urs Krebs, der scheidende Präsident der Swiss Wushu Federation, wurde am Kongress des Europäischen Wushu-Verbandes während der Europameisterschaften in das Executive Committee der EWuF gewählt. Herzliche Gratulation. Was am Kongress auch noch beschlossen worden ist: Die für eine Europameisterschaft geltenden Regeln müssen inskünftig 1 Jahr im Voraus bekanntgegeben und dürfen dann nicht mehr geändert werden. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass so eine Anordnung an sich zu jedem seriösen Verband gehören würde. Den betroffenen AthletInnen aller Nationen der Europameisterschaft 2006 hilft dies herzlich wenig.

Und dem ganzen Taolu-Team kann ich nur eines mitgeben: Wenn wir die richtigen Lehren aus diesem Anlass ziehen (und die liegen dann doch nicht nur bei der Änderungsübung vom Sonntag; schliesslich mussten da die meisten Nationen durch), dann werden wir umso stärker zurück kommen. Jiaoyou (geben wir Gas)!

Jürg Wiesendanger/11.11.2006


Was wir gerne öfters gesehen hätten: Siegreiche Schweizer! Hier Oliver Hasler nach seinem gewonnenen Kampf gegen einen tschechischen Kämpfer.
Sami Ben Mahmoud bei seiner Nanquan-Form, beobachtet von einem sichtlich zufriedenen Nationaltrainer Zhu Shaofan.
Die Anspannung Sekunden vor dem Auftritt: Jehmsei Keo und Nationaltrainer Zhu Shaofan.
Yoel Berger kurz nach dem Beginn seiner Speerform.
Philippe Binder bei seiner Schwertform.
Die Einsamkeit des Wettkämpfers: Kay Gürber mit Stock.
Bild eines Siegers: Der spanische Doppel-Europameister mit Speer (er gewann auch die Schwert-Kategorie).
Ein wunderschöner Xuanzi der meines Wissens zweitplatzierten Russin im Changquan (Siegerin war ebenfalls eine Russin).
Stimmungsbild aus der Kategorie Nandao der Frauen.
Einer der angesprochenen Schwierigkeitsgrade im Taijijian (Schwert Taiji): Man beachte, dass das gestreckte Bein, das linke Bein ist... Der Boden darf selbstverständlich weder beim Sinken noch beim Aufstehen berührt werden.
 
 
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