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Newsletter Nr. 8 aus China: Grosse
Mauer bei Simatai: Von der Beschaulichkeit zum Massentourismus Verklärte Romantik? Mein Besuch in Simatai im neuen Wasserdorf "Gubeikou Shuizhen" vom 26.10.2014
Bei der Grossen Mauer werde ich emotional. Die Chinesen sowieso und dann wohl alle Touristen, welche schon einmal auf eben dieser Grossen Mauer gestanden sind. Dies dürfte sogar unabhängig davon sein, ob sie nun auf dem meistbegangenen Abschnitt der Mauer bei Badaling oder auf irgendeinem andern Abschnitt waren. Deshalb möchte ich hier zu einem aktuellen Entwicklungsprojekt einige Gedankengänge ausführen.
Als wir mit der Reise 2000 erstmals zur Mauer bei Simatai fuhren, wussten wir sofort, warum dies ein kaum begangener Abschnitt war. Gegenüber dem mit der Autobahn innerhalb von maximal 90 Minuten erreichbaren Abschnitt von Badaling brauchten wir bis Simatai, z.T. über Holperstrassen, gegen vier Stunden. Wenn der Reiseführer daneben, wie üblich (wenn man ihn nicht "eng" führt), auch noch Abstecher in irgendwelche Touristenfallen plant, will er ganz sicher nicht da raus fahren. Wir haben es durchgesetzt und wurden ganz reich belohnt mit einem der atemberaubendsten Mauerteile, welches es wohl um Beijing herum gibt.
Ich glaube, wenn man Reisen organisiert, kann man es nicht immer verhindern, dass man hie und da auch mal etwas "nur" anschauen geht. Trotzdem, ein Ziel muss es doch auch sein, den Besuchern Land und Leute etwas näher zu bringen und im besten Fall zu berühren, Emotionen zu vermitteln und Simatai war zweifelsohne so ein Erlebnis. Weil mich dieser Mauerabschnitt nicht mehr losliess, habe ich mich damals weiter vertieft und fand im Reiseführer von lonely planet dann anfangs der 2000er-Jahre das nachher für uns ultimative Mauererlebnis, welches wir jeder Reisegruppe bieten wollten: Eine 3-4 Stunden dauernde Wanderung auf der Mauer von Jinshanling nach Simatai. Der Mauerabschnitt ist zunächst restauriert, danach folgen verfallende Teile. Wann immer ich in den Jahren nach der Reise mit ehemaligen Teilnehmenden ins Gespräch kam, war dies für sie oft eine der herausragendsten Erinnerungen. Am Ende der Wanderung hatte es damals einfach ein paar Häuser, ein paar Restaurants, einige fliegende Händler, die aber nicht sehr agressiv waren und noch den einen oder anderen Fahrer, der versuchte, sein Fahrzeug mit denjenigen zu füllen, welche nicht zu einer Tourgruppe gehörten.
Simatai bzw. insbesondere die Wanderung dahin, war beschaulich, lange Zeit ein Geheimtipp (bis es irgendwann alle wussten) und ein anstrengendes, aber berührendes Erlebnis in der kargen Natur im Nordosten von Beijing. Es blieb lange Zeit unberührt von den Entwicklungen im Tourismus, auch wenn es in Simatai als auch in Jinshanling schon früh eine Gondel auf die Mauer hinauf gab. Man beging mit eigenen Füssen ein Stück grosse Geschichte Chinas.
Vor einigen Jahren nun wurde die Autobahn nach Chengde fertiggestellt. Diese führt beim Gubeikou-Pass vorbei, einem in der chinesischen Geschichte strategisch wichtigen Pass nicht unweit von Jinshanling. Damit rückten diese Mauerabschnitte plötzlich in greifbare Nähe für auch bequemere Tagestouristen, also für diejenigen, welche für dieses Erlebnis nicht um 5.30 Uhr aufstehen wollten. Seit nunmehr etwa drei Jahren war die Wanderung nach Simatai nicht mehr möglich, d.h. man musste unterwegs irgendwann umkehren. Dies, weil in Simatai, so hiess es, grössere Bauarbeiten im Gange sind. Man muss zudem noch wissen, dass der begangene Mauerabschnitt über eine Grenze führt. Nach ca. 2/3 des Weges überschreitet man die Grenze der Provinz Hebei nach Beijing. Dort stand eine kleine Theke auf der Mauer und man musste nochmals ein Ticket für das Reststück der Mauer lösen.
Nun, die Bauarbeiten sind noch nicht abgeschlossen, aber es zeigt sich, jetzt, da ein Teil dieses Wasserdorfes fertig und offen für das Publikum ist, was das für Bauarbeiten waren: Als zentrales Element wurde ein riesiges Wasserdorf über eine Länge von mehreren Hundert Metern angelegt. Dies im Stile von bekannten Wasserdörfern im Süden des Landes (in der Grossregion Shanghai). Hier fiel der Name Wuzhen, ein sehr berühmtes Wasserdorf in der Nähe von Suzhou, welches ich schon besucht habe. Dazu gibt es ein riesiges Hotel, dann viele kleine Hotels im Wasserdorf selber, Tempelanlagen und Wohnungen, welche man kaufen kann. Der Clou war, dass es offenbar sogar ein Skigebiet geben soll (dazu mehr in der Fotostrecke).
Interessant: An der Mauer in Simatai haben sie selbst nichts gemacht, als ob diese so genügt. Naja, sie scheint ja eh nur noch ein Bilderrahmen zu sein. Das Geschäft läuft jetzt unten (es gibt keine fliegenden Händler mehr auf der Mauer; das waren in der Regel lokale Bauersleute, welche nicht zudringlich waren und mit denen man auch mal einen Schwatz über die Situation hier abhalten konnte). So hätte es an sich keinen Grund gegeben, die Mauer über drei Jahre lang zu sperren. Es lässt aber ahnen, dass das, was ich auf einer Homepage gefunden habe, zutrifft: Der Weg werde nie mehr aufgehen. Warum dem so ist, entzieht sich meiner Kenntnis. So kehren all diese Touristen aus Jinshanling beim Turm Nr. 22 (offenbar dem letzten auf dem Gebiet der Provinz Hebei) wieder um. Dabei könnten die alle sich danach noch das Wasserdorf ansehen (oder eben nicht, falls ihnen das Ticket zu teuer ist).
Dabei will ich hier nicht mal gegen diesen offensichtlichen Massentourismus anschreiben. Wir selber entwickeln uns in der Schweiz ja auch immer mehr in diese Richtung. Es ist offenbar eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Aber was ich nicht verstehe ist, dass man den Romantikern, den Weg nicht hat offenlassen können. Ob es hier auch so etwas wie einen "Kantönligeist" gibt? Ich habe etwas gegen dieses ständige geführt werden, wie es in China da und dort an der Tagesordnung ist. So kann man die Mauer in Simatai nicht mehr besteigen, wenn man nicht das Ticket für das Wasserdorf löst. Bei den vielen Millionen, die dort investiert worden sind, kann man das ja noch ein Stück weit verstehen, aber eben, wenigstens den Weg von Jinshanling nach Simatai hätte man offenlassen können. Man hat damit auch die Chance vertan, die Wanderer von Jinshanling her in Simatai einzubinden. Ich denke, das wäre eine Win-Win-Situation geworden. Für mich hätte nichts dagegen gesprochen, mir zum Schluss mit der Gruppe noch das Wasserdorf anzusehen.
Das Dorf ist meiner Ansicht nach gut gelungen, aber es lebt natürlich noch nicht, weil immer noch gebaut wird, es Ende der Saison ist und es kaum Gäste in den Hotels im Dorf hat. Kein Vergleich zu den Wasserdörfern, die ich schon gesehen habe und in denen tatsächlich noch ein Leben der Einheimischen stattfindet (wenn auch mal mehr oder mal weniger; Tongli ist hier ein gutes Beispiel). Im Moment läuft man in Simatai durch leere Kulissen, weil sehr viele Gebäude gar noch nicht gefüllt sind.
So liess mich der heutige Besuch an einem für mich sehr emotionalen Stück China mit gemischten Gefühlen zurück. So spontan könnte ich mir vorstellen, dass wir auf unserer nächsten Reise 2015 wiederum (wie 2012) in Jinshanling auf die Mauer steigen (und uns wie üblich von den lokalen Bauern begleiten lassen), irgendwann umkehren und wir dafür dann ein echtes Wasserdorf anschauen gehen.
Hm, der Text ist sehr lang geworden. Ich hoffe, ihr verzeiht mir das für einmal. Ansonsten seid ihr sicherlich schon früh zu den Fotos gesprungen.;-)
So, nun ist aber definitiv fertig mit Berichten aus China. Bis am Mittwoch im Training!
Herzliche Grüsse in die Schweiz
26.10.2014/Jürg Wiesendanger
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